Autonomie & Hingabe

Von der Selbstbestimmung oder der Kunst sich hinzugeben

Selbstbestimmung und Hingabe. Das klingt nach Lebenskunst. Auf den ersten Blick ist es ein ungleiches Paar, es klingt nach Entweder-oder. Bei näherer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass es das eine nicht ohne das andere geben kann. Es handelt sich bei diesem Begriffspaar also eher um ein Weder-noch, oder idealerweise um ein Sowohl-als-auch.

Eigentlich ist es ganz einfach: Ich kann mich nur aus freier Entscheidung hingeben. Hingabe bedeutet nämlich keineswegs Unterwerfung. Um mich wirklich für etwas entscheiden zu können, brauche ich die Freiheit, mich genauso gut dagegen entscheiden zu dürfen.

Es ist kein Geheimnis, dass es für ein Ja auch die Möglichkeit des Neins braucht. Mein Ja zu etwas beinhaltet immer mein Nein zu etwas anderem. Das setzt eine gewisse Gleich-Gültigkeit voraus. Gleich-Gültigkeit im Sinne einer zunächst neutralen Beobachtung. Erst nach diesem Innehalten werde ich, meiner aktuellen Situation und Bedürfnislage angemessen, meine Beobachtungen werten. Daraufhin kann ich dann meine freie Entscheidung fällen.

Was steht dieser Freiheit entgegen? Auch das scheint einfach: Es ist das tiefe Bedürfnis zu lieben und geliebt zu werden. Hier beginnt der Kreislauf. Wenn ich geboren werde, brauche ich meine Eltern existenziell. Ich lerne früh zu spüren, wie ich sein soll, um diese lebensnotwendige Aufmerksamkeit zu bekommen. Ebenso früh lerne ich, wie ich nicht zu sein habe. Das lerne ich unmissverständlich dadurch, wie die Eltern auf mich reagieren. Ihre Bilder von mir werden meine. Gerne rebelliere und kämpfe ich gegen diese Bilder. Dadurch stelle ich sie aber niemals wirklich in Frage, denn auf diese Weise lasse ich sie nicht wirklich los. Solange ich das nicht tue, ist es mir unmöglich, meine eigenen Bilder zu erschaffen.

Eigene Bilder schaffen bedeutet, den Kelch der Elternbotschaften und Aufträge abzustellen. Ohne eigene Bilder fällt es schwer, das Floß zu besteigen, mit dem ich den Fluss meines selbstbestimmten Lebens befahren möchte. Ohne eigene Bilder möchte es immer wieder weggleiten, sobald mein Fuß darauf Platz finden soll. Denn dieses große Verbot, dieses Tabu ist sehr kraftvoll und niemals um Argumente verlegen.

Wie kann ich mich auf den Weg machen, um zu dieser verheißungsvollen Selbstbestimmung zu finden?

Der erste Schritt ist die schlichte Anerkennung der Situation und der eigenen Rolle darin. Die Anerkennung dessen, was ist. Wie verhalte ich mich? Was macht mir Schwierigkeiten? Welche davon trage ich vor mir her wie einen Bauchladen, und welche soll bitte niemand sehen – am besten nicht einmal ich selbst? Ergo: Was darf nicht sein in meinem Leben, in meiner Art, zu sein? Wie habe ich gelernt, so zu fühlen und mich auf diese Weise zu verhalten? Was ist mir in den prägenden Jahren widerfahren und hat mir eine Angst gemacht, die ich immer noch mit mir herumtrage? Was konnte ich mit meinen Eltern nicht lernen?

Wenn ich anerkannt habe, was war und ist, brauche ich Handlungsfähigkeit, um daran etwas zu ändern. Schnell verzieht dabei die Resignation zynisch die Mundwinkel und sagt: „Ach, wie soll das denn gehen? So bin ich eben. Ich kann daran nichts ändern. Ich habe es versucht, ich lerne das nie.“ Das ist die Haltung der Unterwerfung – diese ist aber gleichzeitig die der Rebellion. Es ist eine alte Haltung aus der Zeit, in der die inneren Weichen gestellt wurden. Dahin muss ich offensichtlich zurück, um den Impuls zu verändern, der da aus der Tiefe aufsteigt, immer und immer wieder. Die alte Haltung der Unterwerfung umzuwandeln in die neue Haltung der Hingabe, das ist der nächste Schritt auf meinem Weg.

Doch wie erwerbe ich die benötigte Handlungsfähigkeit? Nachdem ich anerkannt habe, was mir wiederfahren ist, geht es darum, mich davon abzugrenzen. Nein zu sagen und zu merken, was stattdessen angemessen gewesen wäre. Dies setzt genau jenes Grundrecht voraus, welches wir alle haben und dessen sich die wenigsten bewusst sind: Jeder Mensch hat das Grundrecht gesehen, geliebt und um seiner selbst willen gut behandelt zu werden. In diesem Bewusstsein wird es mir möglich, Unrecht als solches zu erkennen und mich abzugrenzen. Natürlich kann ich nichts ungeschehen machen. Aber ich kann meine Haltung verändern, weg von der Passivität oder sogar dem Glauben, es nicht besser verdient zu haben. Hin zu dem Bewusstsein, dass mir Liebe angemessen gewesen wäre. Meine Haltung zu mir selbst verändert sich. Der Gedanke: „So haben sie mich gesehen und behandelt, also bin ich so“ wird zu: „So haben sie mich gesehen und behandelt, deswegen habe ich gelernt, so zu fühlen und mich so zu verhalten – aber ich bin nicht so“. Jetzt kann ich deutlich Nein sagen zu dem, was ich statt bedingungsloser Liebe bekommen habe. Ich identifiziere mich nicht mehr damit und kann es endlich loslassen. Mit der endlich an die richtige Adresse artikulierten Wut über die Ungerechtigkeit, die mir widerfahren ist, reaktiviere ich meine eigene Kraft und Handlungsfähigkeit. Diese Wut richtet sich dabei nicht gegen die tatsächlichen Eltern, die natürlich nicht auf das reduziert werden können, was sie damals falsch gemacht haben. Genauso wenig geht es darum, sie zu Schuldigen zu machen oder als Personen zu demontieren. Es geht um eine Korrektur der alten Elternbilder. Aus der Perspektive des Kindes, das naturgemäß zu ihnen hinauf sieht, erscheinen sie riesengroß. Aus der Sicht des erwachsenen Kindes befindet man sich aber inzwischen auf Augenhöhe.

Es ist kaum zu vermitteln, wie viel Lebensenergie in dieser Resignation und Angst absorbiert werden.

Und es ist schwer zu beschreiben, was für ein Fest es ist, die Deutungshoheit über das eigene Leben zu erlangen.

Wenn die eigenen Beine dann wieder tragfähig sind, wird es darum gehen, zu verstehen: Wie ist es so gekommen? Welcher Kette letztes Glied bin ich? Was hat meine Eltern geprägt, sich und mich so zu sehen? Wenn ich meinen emotionalen Keller aufgeräumt habe, erkenne ich Zusammenhänge, die mir vorher durch Angst, Wut und Glaubenssätze verstellt waren.

Das öffnet die Tür zu dem, was ich mir selbst immer wieder versage: Mitleid wird ersetzt durch Mitgefühl. Im Gegensatz zu Mitleid ist Mitgefühl eine Gnade, die sowohl das eigene, als auch das Leid der anderen zuverlässig lindert. Im selben Maße, indem ich mich dem Mitgefühl für meine Eltern öffne, tue ich das auch für mich. Das funktioniert auch umgekehrt. Es ist dieselbe Bewegung: Nicht das eine folgt auf das andere, beides geschieht im gleichen Moment. Mitgefühl entschuldet nicht. Es erkennt an und fühlt mit. Wenn ich mitfühle, wechsle ich meine Perspektive vom geliebt werden wollen zur Liebe. Ich liebe, wenn ich mitfühle. Das ist ebenso erfüllend, wie wenn ich liebevoll umfangen werde. Ich kann nur nehmen, wenn ich mich verschenke. Auch dies ist dieselbe Bewegung. Aus der Perspektive des Verletzten mag es skurril klingen, dass Mitgefühl alte Wunden heilt. Aber genau das brauchen die Wunden: eine liebevolle Anerkennung dessen, was ist. Integration, nicht Ausschluss und Ablehnung.

Dann kann das Leben kommen – mit seiner ganzen Wucht und Zartheit. Ich kann mich wieder treffen und berühren lassen. Jetzt und hier das Leben erleben. Was kann ich mehr tun, als mein Leben voller Selbstbestimmung und Hingabe zu leben und zu genießen?